Zur Sozialen Marktwirtschaft -
Warum wir über unsere Wirtschaftsordnung reden müssen

 

Mitten im Zweiten Weltkrieg, unter dem Eindruck einer alles steuernden Staatsgewalt erarbeiteten verschiedene Gruppen von Experten Konzepte für eine freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Viele dieser Experten waren durch ihren Glauben verbunden und schöpften aus den Einsichten der christlichen Tradition; die einen versammelten sich im Kreisauer Kreis, die anderen im von Dietrich Bonhoeffer beauftragten Freiburger Kreis, dessen Mitglied auch der Unternehmer Walter Bauer, späterer Gründer unseres Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer, war. Nach Ende des Krieges wurden die Impulse dieser Kreise für eine freie und demokratische Wirtschaftsordnung unter dem Begriff "Soziale Marktwirtschaft" ausgearbeitet und umgesetzt.

Seitdem ist die Soziale Marktwirtschaft eine Erfolgsgeschichte. Sie hat die Grundlagen für den von Ludwig Erhard beschworenen "Wohlstand für alle" gelegt. Dazu ermöglicht sie Partizipation und Solidarität. Dabei ist die Soziale Marktwirtschaft als prinzipiengeleitetes System veränderungsoffen und flexibel. Ihre Gestalt hat sich bei neu auftretenden Herausforderungen immer wieder gewandelt. Dies kann auch heute angesichts von Globalisierung, Digitalisierung und der ökologischen Frage der Fall sein.

Die Soziale Marktwirtschaft ist als Modell der Mitte gedacht, das zwischen den beiden wirtschaftlichen Extremen, ungeregeltem Markt und Planwirtschaft, steht. Es sucht die Balance zwischen Freiheit, persönlicher Leistung und individueller Verantwortung auf der einen, Gleichheit, gemeinsamer Verantwortung und staatlichem Interesse auf der anderen Seite. Mit dieser Ordnung sollen die Vorteile von Markt und Regulierung verbunden und zugleich ihre Schattenseiten überwunden werden.

Wesentliche Elemente der Sozialen Marktwirtschaft sind das Privateigentum mit daraus erwachsenden Verpflichtungen, Vertragsfreiheit und autonome Tarifpartnerschaft, vorrangige Preisbildung über Märkte, funktionierender Wettbewerb durch allgemeinverbindliche und staatlich sanktionierte Rahmenordnung, Mindestschutzbestimmungen und Mitwirkungsrechte für alle Marktteilnehmer bei gleichzeitiger Selbstverantwortung mit adäquater Übernahme von Risiko und Haftung sowie die Gewährleistung der Geldwertstabilität. Als evangelische Unternehmerinnen und Unternehmer sind wir der Überzeugung, dass diese Elemente einer wirtschaftlichen und sozialen Betätigung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes in besonderer Weise entsprechen. Zugleich meinen wir, dass angesichts großer Zukunftsfragen und tektonischer Verschiebungen in Wirtschaft und Gesellschaft eine Diskussion über die Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft notwendig ist. Denn wir beobachten eine Abkehr von ihren Prinzipien, allen voran der leitenden Funktion des freien Willens und der durch Eigentum vermittelten Verantwortung, die sich in einer unzureichenden Anpassung an neue Herausforderungen äußert. Wir sorgen uns deshalb um die Zukunft dieser für die Menschen in unserem Land so guten Wirtschaftsordnung. Aus diesem Grund melden wir uns zu Wort.

 

I. Wir sehen diese Herausforderungen

Die heutigen Herausforderungen für Deutschland, Europa und die Welt sind bekannt. Die Weltbevölkerung wächst derzeit in Richtung acht Milliarden Menschen. Die Begrenztheit der Ressourcen unseres Planeten wird schon vor diesem Hintergrund überdeutlich: Bereits nach etwas mehr als der Hälfte eines Jahres verbrauchen wir das an Bio-Kapazität, was auf der Erde nur innerhalb eines ganzen Jahres neu entsteht. Nur wenn sich unser Umgang mit den natürlichen Ressourcen grundsätzlich ändert, kann der Klimawandel als zentrale Bedrohung unserer Lebensgrundlage aufgehalten werden. Angesichts des rasanten Anstiegs der Erderwärmung bleibt hierfür wenig Zeit.

Gleichzeitig kommt es zu fundamentalen Veränderungen auf den Märkten. Die durch die Digitalisierung getriebene Plattformökonomie verlagert das wirtschaftliche Kräfteverhältnis weg vom Wettbewerb auf Augenhöhe hin zur Macht- und Datenkonzentration bei wenigen Anbietern. Während durch die globale Öffnung der Märkte der Wohlstand weltweit weiter wächst, eine globale Mittelklasse bereits entstanden und die Ungleichheit auf internationaler Ebene im Durchschnitt gesunken ist und durch den Aufholprozess der aufstrebenden Staaten weiter sinken wird, entbrennt gleichzeitig die Debatte um wachsende Ungleichheit und Partizipation auf nationalen Ebenen neu.

Damit stehen wir als evangelische Christen zusammen mit unseren Mitmenschen vor vielen offenen Fragen. Diese stellen sich etwa im Verhältnis von Ökologie und Ökonomie, von Wachstum und Nachhaltigkeit, von Exklusivität und Teilhabe oder von staatlich garantierter Stabilität und unternehmerischer Freiheit.

 

II. Wir erinnern an die christlichen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft

Als verantwortungsbewusste Christen orientieren wir uns bei der Suche nach Antworten an dem Ansatz der Sozialen Marktwirtschaft, der eine seiner wesentlichen Wurzeln in der Denkschrift des Freiburger Kreises hat. Im Auftrag der Bekennenden Kirche wurde in dieser Denkschrift das Konzept einer Wirtschafts- und Sozialordnung nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Basis einer christlichen Ethik evangelischer Prägung entworfen.

Dieser Ansatz grenzte sich gegen Theorien einer Gesellschaftsordnung ab, die auf religiösen oder säkularen Absolutheitsansprüchen fußen und damit in der Perspektive theologischer Kritik den Willen Gottes in der Geschichte und für die Gesellschaft zu kennen meinen. Solche Theorien stehen im Widerspruch zur christlichen Lehre, die um die Verborgenheit Gottes in Natur und Geschichte für den "aus der Gnade gefallenen" Menschen weiß, der nur in Christus Anteil an dieser Gnade haben kann. Aus dieser Sicht sind alle von Menschen entworfenen Ordnungen vorläufig. Ihr Heils- und Wahrheitsanspruch bleibt stets frag- und kritikwürdig.

Dennoch wird die Notwendigkeit einer Gesellschaftsordnung damit nicht abgetan, sondern vielmehr gefragt, was sie zu leisten imstande sein sollte. Um dies zu klären, setzt die Idee einer Wirtschaftsordnung aus christlicher Sicht in doppelter Weise an: Zum einen beim Menschen, der berufen ist, in Ehrfurcht vor und in Liebe zu Gott und zugleich in Gemeinschaft und Liebe zum Nächsten zu handeln und dabei sein Gewissen anhand der biblischen Gebote zu erforschen. Dabei findet der Mensch seine Freiheit als verantwortliches Wesen. Zum anderen bei dem göttlichen Auftrag der Obrigkeit, "die Guten (zu) schützen und die Bösen (zu) strafen", "die Idee der Gerechtigkeit in konkreten Lebensordnungen zu verwirklichen", wie es jeweils in der Denkschrift heißt, und dabei unterschiedliche Interessen in geeigneter Weise zu befrieden.

Damit wird die menschliche Verantwortung als ein Antworten auf Gottes Willen in den eigenen, spezifischen Lebenszusammenhängen skizziert. Diese Verantwortung ist jedoch immer gefährdet durch Missbrauch und Überforderung. Und andererseits ist sie aufgrund historischer und gesellschaftlicher Prozesse stetem Wandel unterzogen. Hierin erklärt sich die prinzipiell notwendige Flexibilität jeder Gesellschaftsordnung, die jedoch um des gesellschaftlichen Friedens willen nicht in Willkür oder Anarchie abgleiten darf (1. Kor. 14, 33).

Das Ordnungsprinzip der persönlichen Verantwortung zeigt sich in dem, was in der Denkschrift skizziert wird und aus dem das Modell einer Sozialen Marktwirtschaft entwickelt wurde. Der Mensch wird im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nicht in ein fertiges Format gestellt, sondern in der Sozialen Marktwirtschaft ist die Ordnung für den Menschen da, damit er seine Verantwortung als freier Mensch möglichst gut wahrnehmen und damit für sich wie für andere mit "seinem Pfunde wuchern" kann (Math. 25, 14-30).

 

III. Wir stellen Fragen vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen

Die derzeitigen, für die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft noch ungekannten Umbrüche und Fragestellungen können beispielhaft anhand von drei längerfristigen Trends erkannt werden.


1. Ist der Mensch noch Zweck der Wirtschaft?
 

a) Vom Willen des Kunden als Leitmotiv der Wirtschaftsordnung zum willensgesteuerten Konsumenten

Noch schneller als die Zahl der Menschen auf der Erde wächst die Zahl der Marktteilnehmer. Zusätzlich steigt durch die Digitalisierung die Zahl an Interaktionen zwischen diesen. Entsprechend wächst der Umfang an konfliktanfälligen wirtschaftlichen Austauschvorgängen. Dieser Entwicklung wird vielfach mit mehr Regulierung begegnet.

Mit dem quantitativen Anstieg an Interaktionen geht ein qualitativer Wandel einher. Wir finden in vielen Bereichen der Wirtschaft, insbesondere auf den Feldern der rapide wachsenden Plattformökonomie, eine Konzentration auf wenige Anbieter mit konsumentenzentrierten Angeboten.

Diese beiden Trends haben massive Auswirkungen auf die Art und Weise der Beziehung zwischen Anbieter und Kunde im Marktgeschehen. Das überkommene Leitbild des Austauschs von Waren und Geld auf der Basis eines Vertrags unter Gleichen entspricht nicht mehr der Realität. Denn unübersichtliche Allgemeine Geschäftsbedingungen sind für den Einzelnen in seiner Rolle als Verbraucher faktisch nicht mehr verhandelbar. Verträge entstehen lediglich durch einen Klick. Dieser Klick erfolgt zumeist nach einem vergleichsweise kurzen Prozess bewusster Willensbildung oder gar gänzlich ohne diesen.

Anstelle einer Beziehung auf Augenhöhe zwischen Anbieter und Kunde kann man beobachten, dass durch die zunehmende Digitalisierung aller Alltagsvorgänge und die Wiederverwendung und Auswertung unserer Daten im Austausch diverser Anbieter eine Willenssteuerung des (potentiellen) Kunden in bisher ungekanntem Maße erfolgt (nudging). Die Folge ist das Aufbrechen bisheriger Willensbildungsprozesse und die Entwicklung einer datenbasierten Entscheidungssteuerung. Parallel werden Willensäußerungen und damit die Übernahme von Verantwortung für eigene Entscheidungen zunehmend relativiert.

Da das Individuum und sein Wille als Leitmotiv der Wirtschaftsordnung zunehmend zu entfallen scheinen, ist die logische Zuspitzung dieser Entwicklung eine Gesellschaft einheitlicher Konsumenten, die aufgehört haben, Entscheidungsträger im Marktprozess zu sein. Eine solche Entwicklung weg vom selbstbestimmten Entscheidungsträger (Bürger) ist auch deshalb hochbedenklich, da die Väter der Sozialen Marktwirtschaft diese in Beziehung zur politischen Form der repräsentativen Demokratie sahen. Denn in beiden wird kongruent vom Individuum und seinem Willen ausgegangen. Diese Umkehr zeigt sich politisch in Formen der gelenkten Demokratie und des Autoritarismus bzw. der Spaltung von Gesellschaften in einander unversöhnlich gegenüberstehende, uniforme Gruppen (Tribalismus).

Auf rechtlicher Ebene beobachten wir die Bedeutungszunahme wertungsintensiver Normen wie der Grundrechte, mit Hilfe derer privatrechtliche Beziehungen in immer enger werdende Bahnen gelenkt werden. Auch ein zunehmender Druck auf diese Beziehungen von außen durch Gruppeninteressen lässt sich wahrnehmen. Der freiwillig gewählte Kompromiss, elementares Instrument einer demokratisch geprägten Wirtschaftsordnung, weicht der ständig ansteigenden Inanspruchnahme von Gerichten. Erscheint nicht eine Beschreibung heutiger ökonomischer Realitäten zutreffender, die das Individuum und seinen Willen zur Lebensgestaltung in weiten Teilen auf dem Rückzug sieht und den Treiber wirtschaftlichen Handelns in einer breitflächigen Versorgung mit Gütern durch ein immer überschaubarer werdendes Oligopol von zum Teil staatlich geförderten Plattformen erkennt?

b) Vom Wachstum als Mittel zum guten Leben zum Wachstum als Selbstzweck des Wirtschaftens

Diese Logik hat auch Auswirkungen auf das Verständnis von Wachstum. In der Plattformökonomie übernehmen Oligopole die Funktion, Lebensbedingungen zu stabilisieren und einen konstant zunehmenden Konsum und damit Wachstum zu garantieren. Dabei steht die Frage im Raum, inwiefern Wachstum unter diesen Rahmenbedingungen noch als Mittel zu den vielfältigen Zwecken aktiv tätiger individueller Marktteilnehmer gedacht werden kann oder Wachstum als Zielgröße in einer digital gesteuerten Wirtschaft vielmehr als Zweck an sich angenommen wird, für das die individuellen Marktteilnehmer als idealerweise stromlinienförmige Konsumenten nur Mittel sind.

Diese Frage drückt sich in der Unsicherheit aus, mit der heute über Wachstum diskutiert wird. Sie wird auch in dem Unbehagen darüber sichtbar, wie dieses Modell zum Beispiel als Staatskapitalismus chinesischer Prägung die für uns selbstverständlichen bürgerlichen Rechte und Freiheiten außer Kraft setzt. Auch in der Wachstumsdebatte ist es daher wichtig, im Blick zu behalten, dass die Soziale Marktwirtschaft immer als wirtschaftliche Ausprägung einer freiheitlichen Demokratie gedacht war, in der der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht.

Brandaktuell bleibt der Ausgangspunkt der Debatte: Es geht um die Frage des Verbrauchs von Ressourcen. Und auch die paradigmatischen Antwortpfade "nicht wachsen", "anders wachsen" oder "nur durch Wachstum" stehen weiterhin mit- und gegeneinander zur Debatte. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft setzt bei der Suche nach neuen Antworten auf die Wachstumsfrage auf den Austausch mündiger, freier Bürger in ihrer jeweiligen Rolle als Produzenten, Händler, Kunden usw. Die konzeptionelle bzw. ordnungspolitische Streitfrage wäre daher, ob von zum Wachstum verdammten Plattformen bzw. Untertanen bzw. datenmanipulierten Konsumenten bessere Antworten zu erwarten wären.


2. Ist der Markt noch intakt?
 

a) Vom vertragsgeprägten Markt zur versorgungsgeprägten Wirtschaft der Oligopole

Der Verweis auf die Entwicklung von der analogen und nationalen zur digitalen und globalen Wirtschaft ist ein Allgemeinplatz. In der Sozialen Marktwirtschaft sind alle Teilnehmer des nationalen Wirtschaftslebens in ihren jeweiligen, jedoch insgesamt homogenen Rollen vergleichbar zu behandeln und schädliche Akkumulationen von Marktmacht zu verhindern. Dies lässt sich auf einem Weltmarkt, der in vielen Bereichen durch Oligopole bestimmt wird, aufgrund unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Traditionen und machtpolitischer Interessen, vor allem aber aufgrund kaum vorhandener internationaler Regelungsmacht nicht durchsetzen. Nationale Regelungsinstrumente führen aufgrund ihres begrenzten Wirkungskreises lediglich zur Benachteiligung lokaler Unternehmen gegenüber ausländischen Marktteilnehmern mit einem anderen nationalen Regulierungsumfeld.

Dazu kommt der Interessensdruck der GAFAM-Monopolisten und anderer Global Player nach Deregulierung, um eine weitgehende Einheit aller Konsumenten auf der Basis "globaler Werte" einerseits und individueller Ansprache andererseits zu erreichen und damit ihr Geschäftsmodell möglichst effizient umzusetzen. Dies kann bis zu einer Umkehr der Regulierungsmacht führen, bei der nicht Unternehmen, sondern Länder als Standorte im Wettbewerb um Unternehmen stehen. Diese Regulierungsmacht der Global Player zeigt sich auch in der Anwendung absoluter Methoden, die planwirtschaftliche Züge aufweisen (Ausschalten des Marktes und der Sozialpartner, Umgehung der nationalen Auflagen und Steuergesetze, Negieren von Verfügungsrechten z. B. über Daten oder Patente usw.).

Gerade im Modell der Plattformökonomie zeigt sich dabei, wie notwendig eine Reflextion dessen ist, was "der relevante Markt" – gerade auch im Gegensatz und in Abgrenzung zu Plattformen - ist. Zentral im Modell der Sozialen Marktwirtschaft ist dabei die klare Rollentrennung zwischen Marktregulator (Staat) und Marktteilnehmern (Anbieter und Kunden). Diese klare Rollentrennung verschwimmt zunehmend in einer von Plattformen und Oligopolen getriebenen Wirtschaft. In diesen Kontext gehört die Beurteilung privater Unternehmen als "systemrelevant" und damit "too big to fail". Sollten private Unternehmen nicht Teilnehmer, sondern konstitutive Voraussetzungen eines Wirtschaftssystems sein, so läge darin ein der Sozialen Marktwirtschaft systemfremder Auswuchs. Sie verlangt vielmehr die konsequente Allokation von Verantwortung – bis hin zur Insolvenz – bei jedem einzelnen Marktteilnehmer.

b) Von expandierenden Handelsbeziehungen zur Spaltung der Wirtschaft in Global Player und identitäre Lokalismen

Zugleich schreitet auf gesellschaftlicher Ebene die Fragmentierung weiter fort. Diese Fragmentierung ist ein globaler Prozess. Soziale Gemeinsamkeiten werden geringer geachtet, Unterschiede werden betont. Wo tradierte soziale Bindungen an Identifikationskraft einbüßen, entsteht Raum für neue kollektive Zugehörigkeitsgefühle, die durch globale Markenträger und Trends bedient werden. Diesen Trend bedienen und befördern soziale Plattformen durch die Logik des Followertums und durch Algorithmen mit Verstärkungseffekten (Echokammern).

Da diese neuen Zugehörigkeiten nicht auf Alltagsbeziehungen beruhen, bieten sie keinen vergleichbaren Lernraum des sozialen Miteinanders. Dies schlägt sich dann auch im Wirtschaftsleben nieder. Soziale Kompetenzen wie Kompromissfähigkeit, Selbstbegrenzung und Kooperation sind nur noch bedingt zielführend und werden daher ersetzt durch kompetitive, technische und ideologische Ansätze. In einem globalen Markt brechen die Steuermechanismen von Legitimität und Legalität zum großen Teil weg bzw. verändern sich in globale Richtung, also weg vom regio-kulturellen Hintergrund. Dies führt zugleich zu einer Global Culture, die ihrerseits emotionale Zugehörigkeit und damit auch Abhängigkeit zur Folge haben kann. Inwieweit solche Aspekte und die aus ihr folgenden Vernetzungen gegebenenfalls auch friedensfördernde Auswirkungen haben, ist derzeit noch nicht in ausreichender Weise untersucht. Im Inneren von Gesellschaften dürften jedoch eher Konflikte die Folge sein.

Dem steht scheinbar ein Gegentrend zur Renationalisierung und Relokalisierung entgegen als Widerspruch zur Globalisierung, die vielfach auch als Kontroll- und Identitätsverlust erlebt wird. Man könnte diesen Trend aber auch als komplementäre Folge des beschriebenen Verlustes lokaler sozialer Gemeinsamkeiten beschreiben. Diesem Trend entspricht wirtschaftspolitisch eine Skepsis gegenüber bzw. Ablehnung von internationalen Handels- und Wirtschaftsstrukturen und eine stärkere Kontrolle nationaler Grenzen. Verstärkt wird dieser Trend durch die traditionelle Organisation der Sozialpolitik im nationalen Rahmen, die durch globale Trends vor völlig neuen Herausforderungen steht. Dies zeigt sich etwa in der Migrationsdebatte bei Ängsten vor Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme und in der Steuerpolitik in der Ablehnung von Steueroptimierungsmodellen bei globalen Playern. Das parallele Auftreten beider Trends enthält ein hohes Konfliktpotential.


3.  Wer trägt in der Wirtschaft Verantwortung?
 

a) Vom Eigentum als Ankerpunkt wirtschaftlicher Verantwortung zum verantwortungsdiffundierenden Modell der Verfügbarkeit von Gütern

Seit jeher fragen Wirtschaftstheorien nach der Notwendigkeit von persönlichem Eigentum für die soziale Ordnung. Interessanterweise kommt jedoch keine real existierende Wirtschaftsform ohne seine Bejahung aus. Auch die Soziale Marktwirtschaft ist ohne Privateigentum als konstitutivem Element nicht denkbar. Dabei wird Eigentum als der wesentliche materielle Aspekt gedacht, für den das wirtschaftende Individuum Verantwortung trägt und dessen Erwerb und Bewirtschaftung als Motivator wirtschaftlichen Handelns gilt. Ein wesentliches Prinzip der Marktwirtschaft liegt hier darin, das Streben nach Eigennutz zur Förderung des Gemeinnutzes einzusetzen.

Die oben beschriebene Entwicklung hin zu einer Fokussierung der Wirtschaft auf ihre Versorgungsfunktion hat in den vergangenen Jahren jedoch die Vorstellung von Eigentum verändert. Ganz faktisch hat es kontinuierlich an Attraktivität eingebüßt. So gibt es medial dermaßen präsente – tatsächliche oder auch fiktive – Eigentumsmassen, dass sich Eigentum nur noch eingeschränkt zur Statusdefinition eignet. Insbesondere in sozialen Medien spielt es kaum eine Rolle.

Darüber hinaus hat die soziale Belastung des Eigentums immer weiter zugenommen. Dabei geht es gar nicht so sehr um seine steuerliche Behandlung, sondern um die Beschränkungen im Hinblick auf die Verfügbarkeit durch den Eigentümer. Beispielhaft seien nur Haftung, Zinsschwankungen, Umweltauflagen usw. genannt. Eigentum bringt einen immer höher werdenden Aufwand (Verantwortung) mit sich, der in manchen Bereichen zwischenzeitlich als (Transaktions-)Aufwand bei oder nach Erwerb die Vorteile überwiegt. Hinzu kommt konstante Geldentwertung, die ihre Gründe vor allem in einer zu hohen Staatsverschuldung hat und in besonderer Weise das langfristig gebundene Eigentum (z. B. Stiftungen, Renten) belastet.

Demgegenüber wächst die Attraktivität von Verfügbarkeit. Es nehmen die Möglichkeiten von Miete, Leasing, Pacht, also der Verfügbarkeit von Gütern auf Zeit, aber auch staatliche Zuwendungen kontinuierlich zu. Sichtbar wird der Unterschied auch in Konzernstrukturen und in der Politik, wo Nichteigentümer - häufig unter Ausschluss oder starker Einschränkung von Verantwortung und Transaktionsaufwand – über gewaltige Vermögen verfügen. Diese Verfügbarkeit wird im Wirtschaftsleben augenfällig in der Position des Vorstands einer Aktiengesellschaft, des Fremdgeschäftsführers einer GmbH oder mehr noch in der des Fondsmanagers im Gegensatz zum Eigentümergeschäftsführer. Reduzierter Verantwortung wird – unzureichend – mit dem Begriff der Compliance begegnet. Die Forderungen der jüngsten Zeit nach "Compliance für den Mittelstand" stellen insoweit die Verhältnisse auf den Kopf.

Mit dem Bedeutungsverlust des Eigentums schwindet ein entscheidender Verantwortungsfaktor und damit eine konstitutive Stütze der Sozialen Marktwirtschaft in ihrer bisherigen Form. Es ist zu beobachten, dass nicht mehr aus eigenem Recht und eigenem Wohl heraus, mit der Gefahr von deren Beeinträchtigung, sondern aufgrund von Status und durch Vertrag verliehener Macht mit verminderter Auswirkung einer Handlung auf den Handelnden selbst gehandelt wird.

b) Vom Eigentümer-Unternehmer zum Stakeholder unter Stakeholdern

Diese Entwicklung vom Eigentum hin zur Verfügbarkeit als erstrebenswertem Ziel wirtschaftlichen Handelns wird gestützt durch eine Entgrenzung von privater und beruflicher Sphäre, die durch die Digitalisierung stark beschleunigt wird. Sie wird zudem flankiert durch eine Wahrnehmungsveränderung, die die Auswirkungen wirtschaftlichen Handelns auf und dessen Verwobensein in Gesellschaft und Umwelt noch stärker fokussiert. In dieser ganzheitlichen Wahrnehmung verschwimmen die Unterschiede zwischen eigen und fremd zunehmend. Eine beispielhafte Äußerung dieser Entwicklung ist der Trend vom konkreten eigentumsbegründeten Shareholder-Value zum schwerer eingrenzbaren Stakeholder-Value. Denn der Stakeholder-Begriff lässt eine im Prinzip unbegrenzte Möglichkeit der Verbindung des Einzelnen mit einer Sache zu. Dabei wird in der Sozialen Marktwirtschaft das Erfordernis der Verfügbarkeit gut ausgebildeter Mitarbeiter und ihrer intrinsischen Motivation sowie das Vorhandensein einer entsprechenden Nachfrage durch Kunden als unabdingbare Voraussetzung für den wirtschaftlich erfolgreichen Einsatz von Eigentum anerkannt. Darüber hinaus bleibt der derzeit diskutierte Stakeholder-Ansatz vielfach diffus; insbesondere der Eigentümer ist häufig nicht in die Antwort auf die Frage, wer Stakeholder seines Unternehmens ist, eingebunden.

In diesem Kontext ist die Frage nach der Gemeinwohlbindung der Wirtschaft zu stellen. Der Stakeholder-Ansatz stellt eine konkrete Einschränkung des Eigentumsbegriffs dar. Auf der anderen Seite ist Wirtschaften (auch) nur auf der Grundlage allgemeinverfügbarer Güter – allen voran einer intakten Umwelt – möglich. Eine ausschließliche Orientierung am Shareholder-Value wird daher mit Recht abgelehnt. In der Zusammenführung der Interessen scheinen die überkommenen Institutionen der Beteiligung heute jedoch nicht mehr so tragfähig. Beispiele hierfür finden sich zahlreich, jüngst etwa im Bereich der Energiewirtschaft (Hambacher Forst) oder bei Siemens (Ausstattung von Förderanlagen in Australien). Man erhält den Eindruck, dass sich einzelne Gruppen vermehrt aufgefordert sehen ihre Interessen jenseits repräsentativer Gemeinwohlgewährleistung einseitig durchzusetzen.

c) Vom Staat als Schiedsrichter der Wirtschaft zur Zuständigkeit aller für alles

Der Rückzug von eigentumsbegründeter Verantwortung wird noch augenfälliger, wenn der Staat vom regelsetzenden Schiedsrichter zum Mitspieler mutiert. Schon diese Doppelrolle verzerrt den Wettbewerb. Entsprechend verheerend sind die Ergebnisse da, wo nicht aufgrund von Qualifikation und unternehmerischer Berufung auf eigene Kosten, sondern qua politischen Mandats und ex officio auf Kosten des Steuerzahlers gehandelt wird. Hierfür finden sich zahlreiche Beispiele, von denen aktuelle Kooperationen im Baubereich (Berliner Flughafen, Elbphilharmonie) nur die Spitze des Eisbergs markieren. Der Begriff Public Private Partnership, noch vor kurzem gepriesen, ist insoweit über die Jahre unter Druck geraten. Mehr Abgrenzung täte Not.

Es darf deshalb nicht verwundern, dass umgekehrt Global Player beginnen, dem Staat zu-geordnete Aufgaben – allen voran die der Gewährleistung einer stabilen Währung – zu übernehmen. Augenfällig wurde dies in den letzten Jahren im Bereich der Daten- und Kryptowährungen, die das Potential haben, nationale Notenbanken auszuhebeln und nicht nur Marktanteile, sondern ganze Märkte zu übernehmen.

Gerade angesichts großer wirtschaftlicher Herausforderungen wie der derzeitigen Covid-19-Pandemie ist der Staat als Währungshüter gefragt. Dabei müssen sich alle staatlichen Maßnahmen nicht nur am Wohl der Menschen heute, sondern auch zukünftiger Generationen messen lassen. Aktive Industriepolitik wie Förderung internationaler Investitionen ist das eine, aber das aktive Einnehmen von Aktionärsrollen oder das Einbrechen in Organisationsentscheidungen und Vertragsfreiheit etwas ganz anderes. Angesichts solcher Grenzüberschreitungen und Vermengungen überraschen daher zunehmende Forderungen der Politik an die Unternehmen nicht, sich selbst Regeln und Quoten aufzuerlegen, bevor man es gesetzgeberseitig tue. Es wird in solchem Vorgehen die Diffusion einst klar abgegrenzter Bereiche sichtbar.

 

IV. Wir kommen zu diesen Schlussfolgerungen


1. Zur Idee der Sozialen Marktwirtschaft: Der Mensch im Mittelpunkt
 

Vor dem Hintergrund der geschilderten Herausforderungen wollen wir an drei Aspekten an das wertvolle Gedankengut der Sozialen Marktwirtschaft anknüpfen:

Wie von den Autoren der Freiburger Denkschrift beschrieben, sind nach christlicher Überzeugung alle Menschen von Gott berufen, ihre jeweiligen gottgegebenen Gaben im Sinne und Dienste ihrer Um- und Mitwelt zum Tragen zu bringen. Dabei bleiben sie Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, verstrickt in Segens- wie Schuldzusammenhänge. Eine Wirtschaftsordnung, die diese Vorstellung vom Menschen ernst nimmt, wird bemüht sein, einen Rahmen zu setzen, der das Beste in den Menschen fördert, ohne sie zu idealisieren.

In der Logik und Struktur der Sozialen Marktwirtschaft bildet sich dies ab, da die Menschen, so wie sie tatsächlich sind, im Mittelpunkt stehen. Daher können in dieser Wirtschaftsordnung ihre vorhandenen individuellen Fähigkeiten, Gaben und Interessen so freigesetzt werden, dass sie zu ihrem Wohl wie zum Wohl der Gesellschaft handeln. Der Staat ist in der Sozialen Marktwirtschaft berufen, die Stärken des Einzelnen zum Wohl der Gemeinschaft zu fördern und den Einzelnen in seiner Schwäche zu stützen. Die Versorgungsaufgabe, die der Staat hierbei wahrnimmt, ist ihm nur auf der Basis der erwirtschafteten Leistung möglich, so dass wirtschaftliches Handeln in indirekter Weise an dieser Funktion Anteil hat.

Zugleich ist Wirtschaften auch eine Ausdrucksform der den Menschen durch Gott geschenkten Freiheit, in der sie berufen sind, sich miteinander zu betätigen. Diese Freiheit ist dabei in doppelter Weise konturiert durch die Verantwortung, da die Verantwortung zum einen Individuen voraussetzt, die auf ihr Tun und Lassen und damit auf ihre Entscheidungen ansprechbar sind, zum anderen aber zugleich die Beziehungen im Blick hat, in der sich aufeinander antwortende Individuen schon immer vorfinden. So grenzt sich diese Freiheit aus Verantwortung auf der einen Seite gegen die Logik eines verantwortungslosen - da unfreien - Untertanentums, auf der anderen Seite gegen die Logik einer Freiheit ohne Bindung und Verantwortung ab. In der Sozialen Marktwirtschaft wird dieser menschengerechten Form der Freiheit aus Verantwortung ein angemessener Rahmen gesetzt.

Menschengerecht ist es auch und zugleich ein Garant für den inneren und äußeren Frieden, dass Menschen miteinander auf Augenhöhe wirtschaftlich in Austausch treten – und dies in einem Rahmen, in dem bei diesem Austausch entstehende Konflikte gelöst oder zumindest zu tragbaren Kompromissen geführt und damit befriedet werden können. Da die Soziale Marktwirtschaft solch einen Rahmen denkt, in dem nicht die Macht des Stärkeren, verschleiert als dessen "gutes Recht", gilt, sondern Starke und Schwache gleichermaßen Rechte haben, die nicht durch die Übermacht von Einzelnen oder Gruppen faktisch ausgehebelt werden dürfen, erfüllt sie damit eine zutiefst gesellschaftliche Aufgabe.


2. Zur Wandelbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft: Erwartungen an die Wirtschaft heute
 

Eine Wirtschaftsordnung kann nicht als gottgewollt bezeichnet werden. Wohl aber sind weltliche Ordnungen in verschiedener Weise in der Lage, göttlichen Geboten gerechter oder weniger gerecht zu werden. Nach Ansicht der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft sind die eingangs genannten Faktoren wie Wettbewerb, Geldwertstabilität, freie Preisbildung, Privateigentum, Vertragsfreiheit und das Verantwortungsprinzip einschließlich entsprechender persönlicher Haftung Voraussetzungen für die Regelung einer menschengerechten Wirtschaft in Freiheit aus Verantwortung.

Freilich sind in den vergangenen Jahren die Erwartungen an die Unternehmen gestiegen. Dies hat zu einer Zunahme der Komplexität von Organisationen geführt. So treten Formen ehrenamtlicher bzw. kooperativer und wettbewerblicher Tätigkeit nebeneinander, verschränken sich zum Teil. Die zunehmende Regulierung, ja Sozialisierung börsennotierter Aktiengesellschaften geht einher mit dem Ruf nach Stärkung des Vereinswesens und der Revitalisierung des Stiftungs- und Genossenschaftsgedankens sowie nach Mitarbeiterbeteiligungsmodellen. Durch möglichst breite Eigentumsstreuung wird die Teilhabe an den Früchten, aber auch den Risiken des Wirtschaftens angestrebt.

Diese erhöhten Erwartungen zeigen sich auch innerhalb der Unternehmensstrukturen: Corporate Social Responsibility, Compliance und andere Governance-Aspekte werden Teil des Geschäftsmodells. Die Ausweitung der Aufgaben von Human Resources auf die Schaffung von betrieblichen Rahmenbedingungen, die während der Arbeitszeit das persönliche Glück heben und die physische und psychische Gesundheit des Einzelnen stärken sollen, weisen neben ihrer betriebswirtschaftlichen Funktion (Mitarbeiterzufriedenheit, Arbeitgeberattraktivität) in eine ähnliche Richtung. Da die Grenzen der Verantwortung dabei verschwimmen, gehen auf der einen Seite Unternehmen das Risiko ein, dass freiwillige Mitarbeiterangebote selbstverständlich, gar verpflichtend werden. Auf der anderen Seite läuft der Einzelne im Wirtschaftsgeschehen Gefahr, sich im Rahmen solcher Programmatiken vereinnahmen zu lassen und dadurch seine Freiheit ein Stück weit aufzugeben.

Auf makroökonomischer Ebene entspricht diesem Trend die Entwicklung neuer Bewertungsmaßstäbe für den Erfolg gesamtwirtschaftlichen Handelns jenseits des Brutto-Inlandsprodukts. Hier sei etwa an die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen oder den internationalen Glücksindex gedacht. Ein entsprechender Schritt wird durch Banken und große Investmentfonds gemacht, wenn sie sich bei ihren Investments auf die ESG-Kriterien verständigen.

Man könnte in dieser Ausweitung der Aufgabenstellung und Zielsetzung wirtschaftlichen Handelns einen Proof of Concept sehen. So scheint es anerkannt, dass wirtschaftliches Handeln zur Verwirklichung allgemein gesellschaftlicher Ziele in besonderer Weise taugt. Die Frage, die sich jedoch stellt, ist, ob bzw. wie man sich hier noch im Rahmen einer Sozialen Marktwirtschaft bewegt oder ob bzw. wann der Trend hin zu einer stärker staatlich geprägten Wirtschaftsordnung über diesen Rahmen hinausführt. Der Blick auf Unternehmen, die sich eines Handelns und einer Sinnstiftung jenseits ihres Gegenstands anheischig machen bzw. machen müssen, bleibt daher ambivalent.


3. Zu den Kernaufgaben der Sozialen Marktwirtschaft
 

Die Soziale Marktwirtschaft hat in der Vergangenheit Wandlungsfähigkeit bewiesen und muss sich weiter wandeln – dies insbesondere auch im Hinblick auf die global verwobene Wirtschaft und deren Akteure aus den verschiedensten kulturellen und religiösen Traditionen. Sie enthält aber auch Kernelemente, die nicht bzw. nur in sehr begrenztem Maße wandlungsfähig sind und deren Abschaffung das wirtschaftliche Gleichgewicht, wie wir es kennen, gefährden würde. Es ist unserer Ansicht nach eine Kernaufgabe jedes Diskurses über Form und Funktionsweise der Wirtschaft, flexible von Kernelementen zu trennen, unentbehrliche Voraussetzungen von reformfähigen Aspekten zu scheiden. Insofern stehen wir als Christen einmal mehr vor der Frage: Was macht eine christlich geprägte Soziale Marktwirtschaft heute aus?

In der Sozialen Marktwirtschaft stehen die Menschen als Geschöpfe Gottes im Mittelpunkt:

  • Daher werden Arbeitnehmer in ihrer Freiheit aus Verantwortung ernstgenommen. Sie bekommen Transparenz und erhalten die Möglichkeit, über ihre Arbeitsbedingungen angemessen mitzuentscheiden, unter der Voraussetzung, selbst für diese Entscheidungen und die Folgen für sich und andere geradezustehen.
     
  • Daher werden Bedürftige nicht fallengelassen, sondern solidarisch unterstützt, zugleich aber auch zu jedem Zeitpunkt darin gefördert, auf eigenen Füßen zu stehen, um anderen zur Hilfe zu werden.
     
  • Daher werden Kunden in ihrer Freiheit aus Verantwortung ernstgenommen. Sie werden weder gezwungen noch manipuliert, sondern sie werden bestmöglich informiert, damit sie selbstbestimmt entscheiden können.

In der Sozialen Marktwirtschaft werden die Menschen stets in ihrer Gemeinschaft mit ihren Mitmenschen gesehen:

  • Daher wird Unternehmen der Rahmen garantiert, den sie benötigen, um ihre Aktivitäten zu entfalten – in dem Bewusstsein, dass nur so Innovation als Voraussetzung für unternehmerisches Handeln möglich ist und dieses Handeln nicht nur die Grundlage für Arbeitsplätze, Steuern und Wohlstand ist, sondern auch das schafft, was an der Zeit ist zu tun.
     
  • Daher wird Unternehmen ein Rahmen gesetzt, der zugleich mit möglichst viel Freiheit und möglichst viel Fairness versehen ist, so dass Unternehmen Weichen für ein tragfähiges, nachhaltiges unternehmerisches Handeln stellen können.
     
  • Daher werden Spielräume auch im internationalen Kontext mutig genutzt, statt sich hinter Regelungen in anderen Ländern zu verstecken. Ein Vorgehen im internationalen Verbund ist wichtig und wünschenswert, doch die Probleme sind dringend, sie anzugehen duldet keinen Aufschub.

In der Sozialen Marktwirtschaft ist die Bewahrung der Schöpfung Gottes eine Kernaufgabe:

  • Daher werden marktwirtschaftliche Effizienzen im Sinne einer steten Reduktion des Verbrauchs von Ressourcen eingesetzt.
     
  • Daher werden Preisbildungsmechanismen gefördert, die die tatsächlichen Kosten eines Produktes oder einer Leistung für Menschen und Umwelt entlang der gesamten Wertschöpfungskette wiedergeben, und unzumutbare Arbeitsbedingungen und Umweltzerstörung nicht verschleiert.
     
  • Daher werden nachhaltige Lösungen für viele - im Sinne einer guten Haushalterschaft - kurzfristigen Erfolgen für einige wenige vorgezogen.

Die Soziale Marktwirtschaft ist in ihrem Kern nicht nur eine Wirtschafts-, sondern immer auch eine Werteordnung. Ziel der Sozialen Marktwirtschaft ist die Gestaltung eines Systems, das die destruktiven Aspekte eines wirtschaftlichen Handelns aus Eigeninteresse, die von den Vertretern des Freiburger Kreises als "Macht der Sünde" (Constantin v. Dietze), "Dämon der Habgier" (Freiburger Denkschrift) oder gar als "Wirtschaftsordnung des Teufels" (Werner Sombart) umschrieben wurden, einhegt und die sich aus diesem Handeln ergebende Produktivität und Wertschöpfung konstruktiv und gemeinwohlorientiert ausrichtet.

Als evangelische Unternehmerinnen und Unternehmer ist es unser Bekenntnis, dass jeder Mensch berufen ist, aus der Freiheit eines Christenmenschen zu handeln. In diesem Bekenntnis gegründet, suchen wir nach den bestmöglichen Antworten auf die Fragen unserer Zeit im Dialog mit anderen, denen es um eine Wirtschaft um des Menschen und der ihm anvertrauten Welt willen geht. Dieses Papier versteht sich daher als Beitrag zu einer Diskussion. Wir sind uns bewusst, dass Segen manchmal mehr auf der Frage als auf der Antwort liegt.

Die Verantwortung eines jeden Einzelnen zählt zum Kernbestand unseres christlichen Bekenntnisses. Die Soziale Marktwirtschaft erscheint uns als ein bewährtes Modell einer Wirtschaftsordnung, dieses Bekenntnis in die Tat umzusetzen. Derzeit sehen wir die individuelle Verantwortung auf dem Rückzug, weil sich der Rahmen wirtschaftlichen Handelns verändert. Dieser Wandel scheint konformes, gesteuertes Handeln zu befördern. Von außen betrachtet mögen Unterschiede im wirtschaftlichen Handeln noch kaum ins Auge fallen. Im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft ist der Mensch jedoch Subjekt, in dem von uns beschriebenen neuen Rahmen droht er zum Objekt zu werden. Dieser Unterschied ist aus christlicher Sicht, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, zentral. Darüber müssen wir reden!